Gebrochene Kreuze

Günther Uecker: Verletzungen – Verbindungen

Ein kleines Fundstück während unseres Sommerurlaubs 2020 war eine Installation in der Lübecker St. Marienkriche. Auf der Heimfahrt von der Ostseeküste machten wir einen Halbtageshalt in Lübeck, wo uns die sieben Türme der Stadt lockten. Wir besichtigten also diverse Kirchen, darunter auch St. Marien, die „Mutterkirche der Backsteingotik“.1Zit. n. dem Artikel „“Marienkriche (Lübeck) auf wikipedia.de, Stand 14. Februar 2021, 11.13 Uhr, https://de.wikipedia.org/wiki/Marienkirche_(L%C3%BCbeck).

In einer Nische der südlichen Chorumgangskapelle stehen vierzehn riesige Holzkreuze, mit Stoffbahnen umwickelt und mit langen Nägeln so beschlagen, dass der größte Teil noch herausragt. Einige Kreuze sind in der Mitte des aufrechten Balkens gebrochen, vor allem aber die Querbalken wirken verstümmelt, als seien die Enden abgebrochen. An jedem einzelnen Kreuz seien „Indizien eines traurigen und hoffnungslosen Zustandes des Gebrochenseins“ zu finden, schreibt die Kunsthistorikerin Annegret Kehrbaum.2Annegret Kehrbaum: „Kunstwerk des Monats – November 2020. Günther Uecker: Verletzungen – Verbindungen. Vierzehn gebrochene Kreuze, 2000“, in: kunstinfo.net, 2020, S. 2, https://www.kunstinfo.net/damfiles/default/kunstinfo/angebote/kunstwerk-des-monats/kreuze-uecker-luebeck/2020-11-02-Kehrbaum-KWdM-Uecker–L-uuml-beck.pdf-3474135aa38a82c9cb8f8ba69ec69c98.pdf. Dort findet sich auch eine ausführliche Beschreibung des Kunstwerks. Geschaffen hat die Kreuze der Künstler Günther Uecker, der seinem Werk den Titel Verletzungen – Verbindungen. Vierzehn gebrochene Kreuze gegeben hat. Die Verbindungen, die mit den oder durch die Kreuze hergestellt werden (sollen), sind für die Besucherinnen und Besucher wahrscheinlich nicht offensichtlich, der erste Teil des Titels, die Verletzungen hingegen schon. Kehrbaum schreibt: „Während man die lädierten Kreuze umschreitet, versteht man intuitiv, dass hier unbeseelte Gegenstände zu Symbolen für menschliche Existenz und Erfahrung geformt wurden.“3Vgl. ebd., S. 2. Man kann vermutlich nur darüber spekulieren, ob hier ganz abstrakt alles seelische Leiden gemeint ist. Vor allem menschliche Kriegserfahrungen scheinen jedoch durch das Kunstwerk evoziert zu werden. Mir ging es da wie Jan Petersen, der schreibt, die „Assoziation zu einer Gruppe von Kriegsverletzten drängt sich ebenso auf wie an die Ruinen umkämpfter Städte“.4Jan Petersen: „Günther Uecker: Verletzungen – Verbindungen“, in: sh-kunst.de, 2019, https://sh-kunst.de/guenther-uecker-verletzungen-verbindungen/. Auch erinnert ihn das Umwickeln derKreuze mit den farbig getränkten Binden an ein Lazarett.5Vgl. ebd.

Ich frage mich, ob es die Kreuze selbst sind, die solch eine Assoziation zum Krieg wecken oder ob es ein weiteres Detail der Ausstellung ist, dem bisher offenbar keine Beachtung geschenkt wird. Die Verortung dieses Kunstwerks scheint immerhin eine Bedeutung zu haben. Ursprünglich wurden die vierzehn Kreuze im Rahmen der EXPO 2000 in der Ruine der Aegidienkirche in Hannover aufgestellt. Seit 2003 sind die Kreuze in der St. Marienkriche als Dauerleihgabe ausgestellt. Gemeinsam ist beiden Kirchen, dass sie während des Zweiten Weltkriegs stark beschädigt wurden, also Orte sind, die die Wunden und Verletzungen dieses Krieges aufzeigen.6Vgl. Kehrbaum: „Kunstwerk des Monats – November 2020“, S. 3.

Kreuz zur Erinnerung an die Kriegsgefallenen des Ersten Weltkriegs in der St. Marienkirche

Bedeutungsvoll für mich ist jedoch das fünfzehnte Kreuz, das sich hinter der Installation an der Wand der St. Marienkirche befindet. Wie in vielen Kirchen wurde auch in St. Marien nach dem Ersten Weltkrieg eine Gedenktafel für die vielen Gefallenen errichtet. In diesem Fall handelt es sich um ein großes schwarzes Kreuz aus Stein, das an der weiß getünchten Backsteinmauer einen starken Kontrast bildet. Der Riss an der Wand, der vom oberen Ende des Kreuzes bis zum Fenster hinaufreicht, ist vermutlich ein Zufall, gibt aber dem Gesamtbildnis von Verletzung und Zerstörung einen zusätzlichen Reiz. Auf dem Kreuz sind die Namen der Opfer zu lesen. Unter dem Kreuz sind, ebenfalls in schwarz, die Jahreszahlen 1914-1918 angebracht. So war dieser Ort bereits vor der Installation des Kunstwerks ein Ort zum Gedenken an die Gefallenen des Ersten Weltkriegs.

Vierzehn oder fünfzhn Kreuze?

Die großen Jahreszahlen an der Wand hinter dem Kunstwerk können auch unbewusst als die Beschriftung einer Informationstafel wirken, so dass die intuitive Interpretation vor diesem Hintergrund geschieht. Für mich zumindest waren die Kreuze sofort riesige Mahnmale des Schreckens des Ersten Weltkriegs und erst in zweiter Linie Symbol für Kriegsverdammung im Allgemeinen, beziehungsweise Mahnmal für die Verbrechen von Menschen an Menschen. Die zwischenmenschliche Gewalt, das was Menschen einander antun können, ist gemäß Helmut Kuzina auch das, was Günther Uecker, der vor allem mit seinen Nagelbildern weltberühmt wurde, mit den Nägeln ausdrücken will.7Vgl. Helmut Kuzina: „In der Lübecker Marienkirche: ‚Gebrochene Kreuze‘ von Günther Uecker“, in: myheimat.de, April 2015, https://www.myheimat.de/luebeck/ratgeber/in-der-luebecker-marienkirche-gebrochene-kreuze-von-guenther-uecker-d2679288.html. Der Ausstellungsort für die Kreuze ist auf jeden Fall gut gewählt und schafft dem Erinnerungsort an den Ersten Weltrieg in der St. Marienkirche eine sehr viel größere Dimension.

References
1 Zit. n. dem Artikel „“Marienkriche (Lübeck) auf wikipedia.de, Stand 14. Februar 2021, 11.13 Uhr, https://de.wikipedia.org/wiki/Marienkirche_(L%C3%BCbeck).
2 Annegret Kehrbaum: „Kunstwerk des Monats – November 2020. Günther Uecker: Verletzungen – Verbindungen. Vierzehn gebrochene Kreuze, 2000“, in: kunstinfo.net, 2020, S. 2, https://www.kunstinfo.net/damfiles/default/kunstinfo/angebote/kunstwerk-des-monats/kreuze-uecker-luebeck/2020-11-02-Kehrbaum-KWdM-Uecker–L-uuml-beck.pdf-3474135aa38a82c9cb8f8ba69ec69c98.pdf. Dort findet sich auch eine ausführliche Beschreibung des Kunstwerks.
3 Vgl. ebd., S. 2.
4 Jan Petersen: „Günther Uecker: Verletzungen – Verbindungen“, in: sh-kunst.de, 2019, https://sh-kunst.de/guenther-uecker-verletzungen-verbindungen/.
5 Vgl. ebd.
6 Vgl. Kehrbaum: „Kunstwerk des Monats – November 2020“, S. 3.
7 Vgl. Helmut Kuzina: „In der Lübecker Marienkirche: ‚Gebrochene Kreuze‘ von Günther Uecker“, in: myheimat.de, April 2015, https://www.myheimat.de/luebeck/ratgeber/in-der-luebecker-marienkirche-gebrochene-kreuze-von-guenther-uecker-d2679288.html.

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